"Capernaum": Klage eines ruppigen Kindes (2024)

In ihrem Film "Capernaum" um Beiruter Straßenkinder entfaltet die Filmemacherin Nadine Labaki die ganze Kraft des Kinos. Sie will ja auch die Welt ein wenig verändern.

Eine Rezension von Anke Sterneborg

Mitten hinein,ins Gewimmel der von Flüchtlingen maßlos überfüllten Stadt Beirut, zieht der zwölfjährige Zain die Kamera und den Zuschauer. Mitten hinein in dieses Durcheinander, was auch gleich die Übersetzungdes Titels Capernaum ist. Konsequent wird esaus der Perspektive der vernachlässigten und gefährdeten Kinder gezeigt, miteiner Kamera, die nah am Boden, auf Höhe der Kinder bleibt. Die bahnen sich flinkihren Weg, wenn sie mal wieder wegrennen müssen, weil sie sich etwasEssbares geschnappt haben, oder amRandstein zwischen Müllbergen hockend ein paar Minuten Luft holen, bevor siesich wieder ins Getümmel werfen.

Ein bisschen erinnert das an Slumdog Millionär von Danny Boyle, derdie Armut auf den Straßen von Mumbai in ähnlicher Weise eingefangen hat, miteiner ungeheuren Energie und einer Zärtlichkeit des Blicks, die das Elend niemalsverharmloste. Auch die libanesische Filmemacherin Nadine Labaki gibt denKindern, die kein echtes Zuhause kennen, in ihrem drittenSpielfilm ein Heim auf Zeit. Doch im Unterschied zu ihrem britischen Kollegenist sie keine Außenseiterin in einem fremden Land, sie kennt die Not aus ihremAlltag. Mit dieser Mischung aus hartem,dokumentarischem Realismus und, ja, Feel Good Movie hat der Film, der vom Libanon bei der Academyof Motion Picture Arts eingereicht wurde, Chancen auf den Oscar als Bester fremdsprachiger Film.

In der Rahmenhandlung steht Zain vor Gericht: Er verklagt seine Eltern, weil sie ihn auf die Welt gebracht haben, obwohl sie sich nicht um ihn kümmern können. Dazu schildert er dem Richter, was er in seinem jungen Leben alles erleben musste: Er konnte nie zur Schule gehen, bekommt selten genug zu essen. Als die Eltern die geliebte Schwester verkaufen, läuft er von zu Hause weg und findet in den Slums von Beirut bei einer jungen Mutter aus Äthiopien Unterschlupf. Die lebt jedoch illegal im Land, und bald schon muss sich Zain mittellos mit deren Baby allein durchschlagen. Zains Anklage ist eine Klage gegen eine ganze Gesellschaft, die solche Geschichten zulässt.

Liebeswirren im Schönheitssalon

ImVergleich zu Capernaum war der erste, 2007 gedrehte Film der Schauspielerin,Drehbuchautorin und Regisseurin Nadine Labaki geradezu verspielt. Ganz weich, fließendund sinnlich klinkte sie sich für Caramelin den Arbeitsalltag und die Liebeswirren einer Reihe von Frauen in einemBeiruter Friseur- und Schönheitssalon ein. Schon da war dieempathische Kraft ihres Blicks und das sehr filmische Gespür für Rhythmus undTiming zu spüren. Auch Caramel war von der Wachsamkeit für die alltäglichen Kämpfedes Lebens geprägt, aber eben noch auf sehr luftig verspielte und komödiantischeWeise.

Seitdem sind ihre Filme immer politischer und brisanter geworden: "Dashat vor allem mit der Erfahrung und Reife als Filmemacherin zu tun", sagt Labaki im Gespräch in einem Berliner Hotelzimmer. "Mit den Jahren habe ich begriffen,welche Kraft und welchen Einfluss das Kino auf das Leben anderer Menschen undihre Wahrnehmung hat. Es wurde für mich zur Verpflichtung, das zu nutzen, umEinfluss auf die Welt zu nehmen, in der ich lebe."

Klingt ganz einfach und logisch, aber wie schwer ist eseigentlich für eine Frau, in der arabischen Welt Filme zu machen?"Seltsamerweise gar nicht", sagt Labaki mit einem entwaffnend herzlichenLachen. "Ich habe niemalsdas Gefühl gehabt, dass ich es als Frau besonders schwer in meinem Beruf hatte.Es ist schwer, im Libanon Filme zu machen. Punkt." Im Libanon gibt es keine Filmindustrie, keineStruktur, die dabei helfen kann, Filme zu konzipieren und zu drehen. "Tatsächlich gibt es bei unssogar mehr Frauen als Männer im Filmgeschäft! Ich weiß nicht warum, denngleichzeitig gibt es viele Frauen, die überhaupt keine Möglichkeit haben, sichzu äußern, die nicht mal das Haus verlassen dürfen. Es ist ein Land vollerWidersprüche, in dem viel davon abhängt, aus welchem Teil des Landes manstammt, in welchem sozialen Umfeld man aufgewachsen ist, ob man christlich odermuslimisch erzogen wurde. Es ist ein Land, das auf enormen Gegensätzenaufgebaut ist."

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Labaki wurde 1974 in Beirut geboren, mitten hinein inden Bürgerkrieg, der ihre Kindheit und Jugend prägte und auch ihre Sensibilitätals Filmemacherin. Während des Krieges konnten die Kinder nicht im Freien spielenund nicht zur Schule gehen, mussten viel Zeit in Schutzräumen verbringen, indenen Sandsäcke den Weg zum Licht versperrten. Mit den Filmen, die sie aus demVideoverleih unter der elterlichen Wohnung holte, lernte sie die Kraft desKinos kennen: "Durch Filme konnten wiratmen, träumen und sehen, was in der Außenwelt passiert. Ich begriff, dass mander eigenen Wirklichkeit entfliehen und das Leben eines anderen Menschen lebenkann."

Schon damals wusste sie, dass sie zu dieser Welt gehören wollte, dasssie Filme machen, Geschichten erfinden und mit anderen Menschen mitfühlenwollte. Da ihr Vater seinen eigenen Wunsch, Filme zu machen, einst aus finanziellenGründen nicht verwirklichen konnte, unterstützte er den Traum seiner Töchter. AuchNadine Labakis jüngere Schwester Caroline Labaki arbeitet im Filmgeschäft, alsSchauspielerin und Kostümbildnerin.

Mit langen, schwarzen Haaren, riesigen braunen Augen undeinem sinnlichen Mund hat Nadine Labakidie Erscheinung eines Filmstars. Kein Wunder, dass sie mitihrer natürlichen Präsenz nicht nur in ihren eigenen Filmen alsHauptdarstellerin agierte, sondern auch beianderen Regisseuren auftrat, unter anderem in Rock the Kasbah und Ein Liedfür Nour. Doch das Gesicht für andere hinzuhalten war ihr nicht genug,dafür hat sie selbst zu viel zu sagen.

War die warmherzige EmanzipationskomödieCaramel noch eine sympathischeFingerübung, hatte Nadine Labakis zweiter Film schon einen deutlich politischerenAnsatz, mit einem sehr weiblichen Blick auf die kriegerischenAuseinandersetzungen ihres Landes. Werweiß wohin? spielt in einem kleinen ländlichen Dorf, in dem Christen undMuslime friedlich zusammenleben, jedenfalls bis mit dem Fernsehempfang auch dieKriege der Außenwelt Einzug halten. Die Frauen und Mütter,die keine Lust mehr haben, ihre Männer und Söhne zu beerdigen, verteidigen denFrieden listig, unter anderem mit einer Gruppe ukrainischerStripperinnen und mit haschischversetztem Kuchen. Labaki nimmt die Absurdität derKriege aufs Korn, die Freunde und Familien von einem Moment zum nächsten zuerbitterten Feinden machen, und mischt sie zwischen Märchen und Musical tragikomischauf. Waren die Männer da noch recht klischeehaft schlicht geraten, erweist sich Labaki in ihrem neuen Film Capernaumals virtuose Erzählerin.

"Capernaum": Klage eines ruppigen Kindes (2024)
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Author: Maia Crooks Jr

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